Interview: Thilo Jörgl
Herr Riske, Sie sind im Februar 2020, kurz vor dem Lockdown, als Vorstand der Intralogistik-Sparte des Verbands der Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) gestartet. Wie fällt Ihr Fazit nach einem Jahr aus?
Gordon Riske: Die Covid-19-Pandemie und der Brexit waren natürlich die alles beherrschenden Themen im vergangenen Jahr, auch beim VDMA. Aber es gab auch andere wichtige Themen. Etwa die Verlängerung der Übergangsfristen für Motoren der Abgasstufe V und die Schnittstelle VDA 5050 – übrigens ein echter Meilenstein in der Intralogistikbranche. Alles in allem war es für uns ein sehr aktives Jahr. Und als VDMA können wir mit den Ergebnissen sehr zufrieden sein.
Was waren die grössten Herausforderungen für die Intralogistik-Anbieter seit Beginn der Pandemie?
Auf der einen Seite gab es viele Unsicherheiten: Engpässe bei Teilen, Instabilität der Produktionsanlagen, teils schwieriger Zugang von Service-Mitarbeitenden zu den Kunden – um nur einige zu nennen. Manchmal war es erst gar nicht möglich, ein neues Warenlager einzurichten. Auf der anderen Seite wuchs in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 die Nachfrage nach neuen, oftmals digitalen Lösungen. Der Druck auf die Unternehmen, wettbewerbsfähig zu bleiben, wurde deutlich grösser. Im Frühjahr 2020 traf uns die Pandemie hart. Aber schon im vierten Quartal 2020 haben wir begonnen, mit der Situation zurechtzukommen.
Was wird sich nach der Krise für die Intralogistik ändern?
Sie gibt uns einen Schub bei Themen wie Digitalisierung, Automatisierung und Nachhaltigkeit. Es gibt Kunden, die uns jetzt schon fragen: Wie viele menschliche Berührungspunkte haben Sie denn im Durchschnitt pro Tag in Ihrem System? Und wie können Sie diese Touch-Points reduzieren? Dieses Thema wird uns weiter begleiten. Auch die Elektrifizierung spielt eine wichtige Rolle. Bei der Kion Group waren im vergangenen Jahr zum Beispiel mehr als 87 Prozent der ausgelieferten Produkte elektrisch angetrieben. Das sah vor zehn Jahren noch ganz anders aus.
Industrie und Handel stehen vor drei grossen Herausforderungen: nicht planbare Nachfragesituationen, unsichere Lieferketten und Arbeitskräftemangel. Wie können Intralogistik-Anbieter beim Letzteren helfen?
In der Tat ist der Arbeitskräftemangel eine Herausforderung. Schauen Sie sich den Ifoy Award an: Sie sehen heute viel weniger Gabelstapler, die von Personen gefahren werden, als vor ein paar Jahren. Und Sie sehen viel mehr FTS oder Lagertechnikgeräte ohne Fahrer. Das autonome, digital gesteuerte Produktspektrum wird in Zukunft immer wichtiger werden. Das hilft unseren Kunden bei der Effizienzsteigerung und gegen den Arbeitskräftemangel.
In welchen Bereichen müssten Intralogistik-Anbieter nachbessern?
Jeder versteht inzwischen, dass die Digitalisierung wichtig ist. Aber es gibt andere Themen, bei denen in den Unternehmen das Verständnis und die Bereitschaft, sich zu verändern, noch nicht so verankert sind, wie es sein sollte. Ein Beispiel ist das Thema Nachhaltigkeit. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Jedes Unternehmen kann und muss etwas in diesem Bereich tun. Wir müssen langfristige Strategien entwickeln und auch umsetzen! Ein anderes Beispiel ist das Thema Geschwindigkeit...
Was genau meinen Sie damit?
Gerade deutsche Unternehmen wollen alles planen und neigen zur Überentwicklung. Und manchmal haben sie Angst, einfach mit Projekten loszulegen. Wenn man sich die asiatische Konkurrenz anschaut, ist die Bereitschaft, Fehler zu akzeptieren, viel grösser. Aber auch die Geschwindigkeit, Dinge zu erledigen, ist dort viel höher. Geschwindigkeit ist Teil der Innovation. Die Digitalisierung hat die Situation transparenter gemacht. Wenn wir in Deutschland zu langsam und nicht risikobereit genug sind, fallen wir hinter die asiatische Konkurrenz zurück.
Welche Rolle spielen Start-ups in der Intralogistik?
Sie spielen eine extrem wichtige, positive Rolle. Meistens sind es ja die jungen Leute, die bereit sind, ein gewisses Risiko einzugehen. Manchmal steht auch ein Investor dahinter, der das Geschäft finanziell möglich macht. Aber das ist nicht immer der Fall. Wir beobachten, dass in den Start-ups innovative Ideen entstehen, die grössere Unternehmen vielleicht nicht unbedingt verfolgen würden. Doch beide Seiten haben ihre Vorteile. Denn grosse Firmen haben Zugang zum Markt sowie zu den Kunden und natürlich auch die nötige Produktionserfahrung. Die etablierte Industrie ist entsprechend wichtig für diese jungen Unternehmer, damit sie ihre klugen Ideen verwirklichen können.
Sehen Sie disruptive Start-ups auf dem Markt, die sich mit einer Plattform zwischen dem Kunden und den traditionellen Unternehmen positionieren könnten?
Das beobachten wir immer wieder. Schauen Sie sich Themen wie Software, Daten-Monitoring oder Flottenmanagement an. Dort, wo die Eintrittsbarrieren nicht so hoch sind, kann ein Start-up mit relativ geringem Aufwand viel bewegen. Aber es gilt immer noch «size does matter». Ein Service-Netzwerk, das die Kunden in der EU, in den USA oder weltweit unterstützt, ist ein grosser Vorteil im Business.
Der VDMA ist Träger des Ifoy Award. Sie haben das Testcamp besucht. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Neben dem AGV Mesh-up habe ich eine grosse Gerätevielfalt wahrgenommen: 17 Produkte und Lösungen von 14 verschiedenen Herstellern. Das ist einer der grössten Ifoy-Auftritte, die es je gegeben hat. Der Ifoy hat sich weiterentwickelt, auch in der Pandemie. 2013 hat man sehr viele Gabelstapler gesehen. Jetzt sehen wir eine Menge Intralogistikgeräte, Software und fahrerlose Transportsysteme. Der Ifoy hat sich sehr stark an die technische Entwicklung unserer Branche und ihrer Märkte angepasst. Die weltweite Online-Reichweite beträgt mehr als 800 Millionen Zugriffe, dazu kommen 3000 veröffentlichte Artikel pro Jahr. Das hat Aussagekraft – weltweit.
Teil des Testcamps war das vom VDMA initiierte AGV Mesh-Up. Welchen Stellenwert hat das?
Laien wird es vielleicht nicht sofort klar. Alles, was sie sehen, ist ein Haufen fahrerloser Transportsysteme, die auf einem Testgelände herumfahren, während im Hintergrund Musik läuft. Aber denken Sie mal genau darüber nach: Diese FTS fahren von selbst, sie haben Sensoren, Kameras und Tracking-Systeme. Manchmal kommen sie sich zwar nahe, stossen aber nie aneinander. Die FTS der verschiedenen Hersteller fahren deshalb so perfekt, weil sie eine gemeinsame Schnittstelle haben – die VDA 5050. Sie ermöglicht die Interoperabilität zwischen verschiedenen Geräten unterschiedlicher Firmen mit einem einzigen System. Aus Sicht des Kunden bedeutet das: Ich habe die Wahl zwischen verschiedenen Produktanbietern. Denn die Geräte können über eine Schnittstelle miteinander kommunizieren. Was wir hier haben, ist eine Weltpremiere.
Wird die VDA 5050 auch ausserhalb Europas erfolgreich sein?
Wenn wir schnell genug sind und sie umsetzen, ja. Wir versuchen, die VDA 5050-Schnittstelle als globalen Standard zu etablieren, so wie die VDI- oder die ISO-Normen. Wir leisten hier Pionierarbeit. Das Interface hat durchaus das Potenzial für eine weltweite Verbreitung.